
Pavillon des Folies - Kreativ Direktor Alessandro Michele beim Finale seiner Show
Interview: Sina Braetz
Alessandro Michele ist zurück und erweckt uns mit seiner ersten Kollektion für Valentino erneut zum Träumen: So transformiert das italienische Modegenie Design-Geschichte in zeitgenössische Romantik – fantasievoll, inklusiv und in Form einer kreativen Hommage an die DNA eines Traditionshauses.
Vor Kurzem fragte mich jemand, welche Modeshow mich als Letztes zu Tränen gerührt hatte. Ich musste lange nachdenken, doch dann fiel es mir ganz klar wieder ein: Es war Alessandro Micheles „Twinsburg“-Frühjahrs-/Sommer-Show 2023, damals noch für Gucci, das Michele 2022 überraschend verließ. Hierfür hatte er 68 Zwillingspaare in einer Inszenierung über einen endlos langen Laufsteg geschickt, mit der er seiner ewigen Faszination für Zwillinge nachging. Eine Symbolik, die so simpel war und konzeptionell betrachtet, im Vergleich zu seinen anderen Shows, vermutlich die geringste Anzahl von intellektuellen Referenzen enthielt. Dennoch war diese Show so stark und magisch, dass sie einem bis heute in besonderer Erinnerung bleibt, besonders nach den dunklen Jahren der Pandemie. Sie zeigte, wie viel Stärke in sozialen Beziehungen, Familie und Freunden liegt, in Verbindungen, die nicht zu brechen sind, in Händen, die sich nicht loslassen. Sie erinnerte an die Lebenslektionen in Form von Spiegeln, die uns begegnen, aber auch visuell ging seine Show in die Modegeschichte ein. Warum ich eine Valentino-Show-Rezension mit einer Gucci-Show beginne, dürfte in diesem Spezialfall „Michele“ auf der Hand liegen. Mr. Alessandro Michele gehört zu den raren Kreativen, die nur nach einem Prinzip funktionieren: die Freiheit zu haben, sich selbst treu zu sein. Sein Ansatz als Modedesigner ist persönlich, intim und intuitiv. Anstatt dem Publikum zu geben, wonach es schreit, konzentriert sich Michele auf seine eigene Kreativität und schaut dabei wenig um sich herum. Sein Anspruch ist es nicht, jedem zu gefallen, sondern tiefe Schichten aus Kultur, Kunst, Gesellschaft und Mode zu verknüpfen, um so mit seinen Kollektionen einen Dialog zu starten, der nicht nur Mode neu prägt, sondern eine Hommage an die Geschichte darstellt, die er in einen neuen Kontext bringt. Das triggert und provoziert manchmal, aber die Leidenschaft, die er damit versprüht, geht allem voraus, vor allem den kritischen Stimmen, die behaupten, Michele würde sich ständig aufs Neue wiederholen. Dabei verwendet der Italiener lediglich immer das gleiche Prinzip: sich tief in etwas hineinzufühlen und zu verbinden, um eine neue Welt von höchster Bedeutung zu offenbaren. „Eine Epiphanie“ hörte ich es mal jemanden nennen, in der die Verbindungen zwischen uns, den Dingen und den Lebewesen sichtbar werden. Michele weiß, wie er Nostalgie, Handwerkskunst und risikoreiche Reinterpretationen kreiert, und beweist dies erneut unter seiner Kreativdirektion für Valentino.
Es war einer der langersehntesten Momente der letzten Pariser Fashion Week im September: Nach zwei Jahren Tiefschlafpause, die Michele nutzte, um die vierjährigen Renovierungsarbeiten seines Apartments in Rom zu beenden, während die Modeindustrie von Minimalismus- und „Quiet Luxury“-Trends dominiert wurde, ist der King der Opulenz und Romantik endlich zurück. Sieben Jahre lang hatte er das Gucci-Haus revolutionierend geführt, um jetzt in die Fußstapfen des heute 92-jährigen Valentino Garavani zu treten und in ein magisches Archiv von maximaler Eleganz und Schönheit zu tauchen. Letzterer ist ein Begriff, den der aus Rom stammende Michele immer wieder aufs Neue ganz individuell definiert mit einer extravaganten, eklektischen Ästhetik, die unendlich viele Geschichten erzählt. Und genau damit hat er es mit seiner ersten offiziellen Valentino Ready-to-wear-Kollektion geschafft, einen Raum mit so viel Leidenschaft zu füllen, die die Modeindustrie zu neuem Leben erweckt hat, auch wenn das nicht alle so unterschreiben würden.
Im Juni hatte Michele bereits ein Lookbook der Resort-Kollektion 2025 veröffentlicht, genau an dem Tag, an dem Sabato de Sarno seine neue Gucci-Kollektion in Mailand zeigte. Die 189 „Avant les Débuts“ Entwürfe, die eine Vorschau auf die Frühling-Sommer-Kollektion 2025 geben sollten, stellte er auf einer spontanen Pressekonferenz vor, zu der er nur eine Handvoll Journalisten einlud.
Für seine erste Frühjahrs-Sommer-Valentino-Show 2025 verwandelte Michele den Pariser Pavillon des Folies in eine magisch-mysteriöse Wunderkammer. Das gesamte Mobiliar ließ er von transparent-weißen Decken verhüllen, den Boden mit gebrochenem Spiegelglas auslegen – eine Referenz an „eine Enthüllung, eine Reflexion, eine Offenbarung“, wie es das Maison Valentino beschrieb. Die Szenerie ist ein Kunstwerk mit dem Titel „Passi“ von Alfredo Pirri, die mit dem Konzept von Fragilität und Limitationen spielt: „Wir sind fragile Kreaturen, immer dem Gefühl der Begrenztheit ausgesetzt. Wir laufen auf Zehenspitzen auf Spiegeln, die unter unserem Gewicht zerbrechen. Während wir laufen, setzen wir keinen Schritt ohne das Risiko des Stolperns und Fallens. “ Die zyklische Natur des Daseins stand im Fokus seiner Aussage, was dem Show-Soundtrack einen noch tieferen Sinn verleiht: „Passacaglia della Vita“, die Neuauflage einer Komposition aus dem 17. Jahrhundert produziert von Gustave Rudman, spricht von der einzigartigen Kunst der Freude: „Joy we must find“, „Joy has to flow“. In unserer sowohl politisch als auch sozial und wirtschaftlich herausfordernden Zeit berühren diese Worte insbesondere. Sie lassen Fragen entstehen und geben gleichzeitig Antworten, warum wir so gern in die Welt der Mode flüchten, an den Ort, wo wir träumen und frei sein können, wo wir Schönheit in diversen Formen finden, Dialoge führen, zwischen Charakteren und Stimmungen wechseln können, Freude finden. Micheles Kollektion hat eine neue Freude an Mode provoziert, elegant, klassisch, aber gleichzeitig romantisch, fragil und feminin. Als eine „dringende Notwendigkeit, wieder Wünsche und Emotionen zu wecken“, bezeichnete es Jacopo Venturini, der CEO, der Alessandro Michele zu Valentino holte, während Giancarlo Giammetti, Valentino Garavanis Businesspartner und langjähriger Freund, den Boss selbst während der Show aus der Front Row gefacetimed hatte.
Das Highlight der Kollektion ist schwierig zu benennen, aber eine der größten Künste, die Michele immer wieder erneut perfektioniert, ist die Liebe für Details und Handwerkskunst: Seine „Doll Looks“ im Stil der Sechziger- und Siebziger-Jahre sowie seine sexy Power Suits, angelehnt an die Achtziger-Jahre, ergänzt er mit Lingerie, Stickerei, Volantkrägen, Spitze (auch in Form von Strumpfhosen), Quasten, Schleifen und Accessoires, die jeden Look auf den Punkt bringen. Zwischen Spitzenhandschuhen, Seidenturbanen, kleinen Beanies und Hüten, wie u. a. ein großer Hut mit schwarz-weiß gestreiften Federn, der aus Valentinos Herbstkollektion von 1971 stammt, tauchen surreale Kitty-Cat-Figurine-Clutches auf sowie mehrreihige Ketten und glamouröse Piercings. Verzierte Taschen tragen die Models manchmal sogar im Doppelpack. Micheles Vision zeigt sich in jedem kleinsten Element – auch ein Grund, warum er seine Kollektionen selbst stylt. Er liebt es, mit Elementen zu spielen, die konventionelle Vorstellungen von Schönheit brechen, ohne dabei die Magie zu zerstören. Seine Polka Dots beispielsweise, ein Stil, den er noch nie so wirklich mochte, werden zu einem kreativen Experiment, ohne dass es der Betrachter so wirklich mitbekommt. Seine bodenlangen, mehrschichtigen Seidenroben und Pelzsäume kreieren Gänsehautmomente, genauso wie die Silhouetten der 86 Frauen- und Männerlooks, die eine langersehnte Eleganz in der Mode wiederbeleben. Dabei bedient sich Michele für seine Designs des reichen Archivs des Valentino-Hauses, kreiert konkrete Referenzen wie beispielsweise mit einem Kleid in Trompe-l’oeil-Optik, das einen schwarzen Frack zitiert, auf der Brust drei schwarze Fliegen. Dieser Look erinnert an einen Haute-Couture-Look aus dem Jahr 1990. Auch das klassische Valentino-Rot sowie das V-Logo setzt Michele stilvoll ein, um so der Tradition des Hauses respektvoll, dennoch innovativ zu begegnen.
Die neue Kollektion stellt auf ganz organische Weise eine Hommage an Garavani und seine elegante Art und Weise dar, ein Maximalist der Eleganz zu sein. „Dieser Ort hat solch eine besondere Story“, erzählt Michele in einem Interview mit „Business of Fashion“. „Dieser Name, Valentino – das ist ein wahrer Name mit wahrem Leben und Liebe. Valentino ist immer irgendwo mit mir. Ich habe eine offene Konversation mit ihm, weil ich spüre, wie er zu mir spricht durch seine Kleider.“ Und so geht der italienische Kreativdesigner seiner Vision nach, die in jedem Menschen, jedem Design, jedem Gebäude und jeder Stadt ein Gemisch aus Konstrukten und Einflüssen aus diversen Zeiten sieht. Dieses komplexe Phänomen will er mit seiner Arbeit analysieren und verstehen. Für Michele, und das macht seine Arbeit unter anderem so besonders, ist es nicht mehr zeitgemäß, aus ausschließlich einer Perspektive auf Dinge zu schauen. Und mit diesem analytischen Denken, gepaart mit einem Meer an Kultur- und Kunstreferenzen und einer leidenschaftlichen Liebe für Handwerkskunst ist Alessandro Michele noch immer und erneut ein Geschenk für die Modeindustrie. Influencer findet man in seinen Shows nicht, ihm reicht seine Kreativfamilie, zu der Elton John, Harry Styles, Florence Welch, Maneskins Damiano David und Colman Domingo gehören.
Mit riesiger Vorfreude dürfen wir auf Januar nächsten Jahres blicken, wenn Michele seine erste Haute-Couture-Kollektion für Valentino präsentieren wird. „A tangle of ways, is life and a maze and when in disgrace joy we must chase“, erklingt es noch immer in meinen Ohren.
Photos © VALENTINO