
Legs Like Canes / Seeing Is Believing, 2020/21, Biskuitporzellan, Höhe 120 cm, Ø 120 cm "Die digitale Skulptur von Julia Beliaeva wurde von Olexsander Tsapenko in der Kiewer Porzellanmanufaktur für die Ausstellung „Remember Yesterday“ Pinchuk Art Centre 2021 gegossen, gebrannt und montiert. Foto: Michael Maritsch, OKLinz. Fragile City exhibition, 2023
Fotos: Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin
Interview: MARCUS BOXLER
Judith, Salome, Hypno. Sie ist schon unter vielen Namen erschienen. Und in vielen Zuständen: in Porzellan, als Video, als Body-Scan – sie selbst sagt „3-D-Fotografie“. Julia Beliaeva ist Multimedia-Künstlerin und erschafft vielfältige Arbeiten in virtuellen sowie physischen Räumen. Sie zeigte ihre Werke bereits in Einzelausstellungen in der Ukraine, in Linz und in Berlin sowie in diversen Gruppenausstellungen weltweit. Derzeit sind ihre Werke im Showroom der König Galerie.
Auf den ersten Blick würde man davon ausgehen, dass du Bildhauerin bist. Gleichzeitig entstehen Werke als 3-D-Modelle, andere als Videoarbeiten. Wie würdest du dich selbst einordnen?
Balancierend zwischen der digitalen, virtualisierten Welt und der physischen. Alle meine Werke entstehen anfänglich im digitalen Raum: zunächst in 3-D erschaffen und später in physische Objekte umgewandelt. Seit 2009 arbeite ich mit digitalen Medien. Schon damals wusste ich, dass ich mich in diese Richtung entwickeln möchte.
Aus welcher Richtung kommend hast du diese Entwicklung eingeleitet?
Studiert habe ich am Institut für Design und Angewandte Kunst in Kiew, das nach Mychajlo Bojtschuk benannt ist. Das waren fünfeinhalb Jahre. In den ersten drei Jahren lernst du Malerei, Zeichnen und verschiedene Drucktechniken wie Radierung und Linolschnitt. Ab dem dritten Jahr begannen wir, mit Programmen wie dem frühen Photoshop und Corel zu arbeiten; später kam Illustrator hinzu. Meine ersten digitalen Arbeiten entstanden in Illustrator – zum Beispiel „The Last Human Mother and Baby“.
Inwieweit beeinflusst dieser künstlerische Ausgangspunkt dein gegenwärtiges Schaffen?
Ich habe diese altehrwürdigen Handwerke sozusagen um- und bin direkt in das Digitale übergegangen. Interessanterweise kehre ich jetzt wieder zu physischen Objekten zurück. Skulpturen aus Material wie Porzellan sind eine archaische Kunstform und verbinden das Digitale mit der materiellen Welt sowie modernes mit traditionellem Kunstschaffen. Außerdem arbeite ich viel mit 3-D-Scans Oft frage ich mich, was ich da eigentlich mache, weil man mich als Bildhauerin bezeichnet, was ich selbst jedoch nicht so sehe.
Wie siehst du dich denn?
Ich bin Multimedia-Künstlerin. Weil ich mit Scans arbeite, fühle ich mich manchmal der Fotografie nahe, denn 3D-Scans sind im Grunde wie Fotografie, nur in 3-D. Wichtig ist mir aber vor allem: Ich arbeite mit echten Menschen, realen Modellen, meistens …
Wer sind die Menschen?
Freunde, Bekannte, Einwohner von Kyjiw, der Ukraine. Ich treffe eine Person, scanne sie, lerne sie kennen. Es ist bei jeder Skulptur eine (neue) Kollaboration.
Wie wichtig sind dir die Narrative, die diese Modelle mit sich bringen oder verkörpern?
Geschichte hat einen hohen Stellenwert in meiner Kunst, um mich selbst in dieser Welt zu verorten und zu verstehen. Viele Fragen lassen sich nur klären, wenn man die Geschichte seiner Familie, seines Landes und der Weltgeschichte kennt. Zwar konzentriere ich mich stark auf die Ukraine, aber mir ist wichtig, dass meine Themen global sind.
Liegt deiner Kunst eine nationale Konstitution zugrunde?
Inzwischen habe ich mich vollständig als ukrainische Künstlerin erkannt. Ich weiß, dass meine Kraft- und Inspirationsquelle in der Ukraine liegt. All meine Kollaborationen, wie die Arbeit mit den Modellen, aber auch mit Institutionen wie der Kyjiwer Porzellanfabrik, sind für mich wichtig. Die Geschichte dieser Fabrik reicht bis in die 1960er-Jahre zurück. Ich bin eine von zwei modernen Künstlern, die mit dieser Fabrik arbeiten. Es ist auch eine Mission, diese Tradition weiterzutragen. Die Tradition endet nicht in der sowjetischen Ukraine, sondern wird bis heute fortgesetzt.
Steht die Arbeit mit digitalen Objekten und Umgebungen im Widerspruch zu dem Versuch, Tradition fortzusetzen?
Im Gegenteil. Die Skater-Szene in Kyjiw, die Jugend von Kyjiw – das ist eine Szene aus dem Leben, die ich jahrelang beobachtet habe. Daraus ist „Heroes of the City“ entstanden. Sie sind im Digitalen manifestiert und bleiben dort ewig. Für mich war es von Anfang an wichtig, echte Menschen in den digitalen Raum zu bringen, der oft von generierten Figuren und Mannequins dominiert wird. Das sind echte, einzigartige Menschen. Ich habe sie gefunden, kennengelernt, und sie sind Teil meiner Werke geworden. Das macht die Arbeit einzigartig. Ein echter Mensch, und es ist festgehalten, wie alt er zu diesem Zeitpunkt war.
Fast so, als würdest du diesen Menschen ein Denkmal setzen. Neben Menschen hast du auch Gebäudefassaden, Architekturen und teilweise ganze Orte gescannt. Du dürftest mittlerweile eine ganze Sammlung akkumuliert haben …
Ich habe meine eigene Bibliothek dieser Scans. Wenn ich beispielsweise einen Scan von 2019 habe, kann ich ihn 2024 wiederverwenden. Für mich ist die Unmittelbarkeit und Schnelligkeit des Prozesses sehr wichtig. Wenn ich eine Idee habe, auch eine groß angelegte, möchte ich sie in ein paar Tagen umsetzen können, zum Beispiel in Blender. Dank der 3-D-Technologie muss ich mich nicht an handwerkliche Prozesse wie das Modellieren halten und kann schnell agieren. Manchmal sehe ich etwas in der Realität und stelle mir sofort vor, wie es als Skulptur aussehen könnte.
Social Meditation, 2022, Keramik, Neonring, 150 × 150 × 50 cm Herstellung und Glasur durch Gmundner Keramik AoCG – Academy of Ceramics Gmunden Foto: Roman Maerz 2024, KÖNIG GALERIE
Was du beschreibst, passt interessanterweise dieses Jahr in das Caspar-David-Friedrich-Jubiläum. Er war ein Romantiker und hat Werke geschaffen, in denen er sich selbst oder seine Bekannten als Modell verwendet hat, und hat gleichzeitig neue Naturbilder komponiert aus einzelnen Objekten aus seinen Skizzenbüchern: Bäume, Felsformationen, Täler. Gleichzeitig war er selbst Modell, beispielsweise in der Szene „Saul und David“ von Kügelgen.
Als Künstler ist das Leben in die Kunst eingebettet. Die Arbeit ist das Ergebnis des Lebens. Man trifft Menschen, durchläuft bestimmte Phasen. Für mich ist es wichtig, mich nicht zu verschließen. Es ist meine Art, mit Menschen zu kommunizieren. Ich gehe nicht gerne auf Partys oder in Clubs. Vor allem in der aktuellen Situation in der Ukraine habe ich einen anderen mentalen Zustand. Aber wenn ich arbeite, fotografiere oder scanne, fällt es mir leicht, mit Menschen in Kontakt zu kommen. Das ist eine Kommunikationsform für mich.
Arbeitest du bevorzugt mit Menschen oder, wie bei „"Fragile City", mit Architektur?
Fragile City“ war ein Projekt in Österreich. Die Idee der Kamine und Häuser hatte ich schon vor dem Krieg und meiner Zeit in Österreich, sie schlummerte etwa ein Jahr in mir. Als der Krieg begann und ich in Österreich war, erkannte ich sofort, dass diese Idee nun eine Form annahm. Das Leben hat die Idee sozusagen ausgeführt. Die Kamine, die in zerstörten Häusern stehen, erinnerten mich an die Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Ich begann, historische Fotos zu suchen, und stieß auf zahllose Bilder von zerstörten Häusern, in denen die Kamine als einzige stehen blieben. In ganz Europa war es damals so.
Heute sehen wir in der Ukraine dieselben Spuren der Vernichtung. Wohn- und Lebensraum werden ausgelöscht. V
Die Kaminform selbst, im Bauhaus-Stil, symbolisiert sozialen Wohnraum und den „sozialen Traum“ von großen Wohnsiedlungen, wie man sie auch in Berlin kennt. Heute ist dieser soziale Traum in der Ukraine zerstört. Die Häuser aus dieser Zeit sind am gefährlichsten, weil sie aus Platten gebaut wurden. Wenn eine Rakete trifft, stürzen sie wie Kartenhäuser ein.
Wie hat sich der Symbolismus dieser Architektur in deinem persönlichen Empfinden verändert?
Ich habe als Kind viele Sommer in Charkiw verbracht, mein Vater ist aus Charkiw. Ich erinnere mich an diese Häuser von damals. Heute sieht man, dass Charkiw eine Frontstadt ist. Diese Gebäude werden am meisten getroffen. Siedlungen wie Saltowka, wo meine Großmutter lebte.
Wenn du als Kind dort warst, hatte es sicherlich eine nostalgische Bedeutung. Hat sich das Symbol verändert?
Ja, das hat es. Für mich hat sich verändert, dass dieser Traum, in dem die Menschen in der Sowjetzeit lebten – ein geordnetes Leben – völlig zusammengebrochen ist. Nicht nur das geordnete Leben, sondern auch die Vorstellung, eine Wohnung in einem typischen Plattenbau zu besitzen. Das ist das Erbe der Generation vor meiner. Und jetzt sieht man, wie alles zusammenfällt, obwohl es auf vermeintlich erhabenen – in Wahrheit propagandistischen – Idealen aufgebaut wurde. Es ist zu einer Ruine geworden.
Diesen Ruinen setzt du neue Denkmäler entgegen.
Seit Langem beschäftige ich mich auch mit der Dekonstruktion des Kommunismus. In der Skulptur der Skater gibt es zum Beispiel auch einen Obelisken. Das ist wie ein Denkmal. Ähnlich wie ein Massengrabdenkmal nach dem Zweiten Weltkrieg. Heute versuchen wir in der Ukraine, jeden einzelnen Helden zu erinnern, sei es durch einen Post oder ein persönliches Gedenken. Früher wurde einfach ein Obelisk aufgestellt, mit einer Liste von Namen. Es gab einen Mythos, aber die Individuen waren darin wertlos. Für mich zeigt dieser Obelisk genau das. Man hat im Zweiten Weltkrieg mit großen Verlusten gesiegt, besonders in der Ukraine, wie immer. Aber am Ende ist es ein großer Propagandamythos, in dem die Menschen keine Bedeutung haben, nur der Mythos. Das ist im Grunde das, worauf Russland heute setzt.
Welche Denkmäler würdest du in Kyjiw für die Zukunft aufstellen?
Derzeit gibt es in Kyjiw viele improvisierte Denkmäler. Zum Beispiel auf der Chreschtschatyk, wo eine Fläche mit Fahnen bedeckt ist. Jede Fahne steht für einen gefallenen Verteidiger der Ukraine. Menschen kommen dorthin, sitzen und trauern.
Judith, 2022, digitale Skulptur
Heroes of the City, 2021, digitale Skulptur
Und wie steht es um institutionelle Denkmäler?
Natürlich müssen wir auch zur künstlerischen und offiziellen Gedenkkultur übergehen, sie vorbereiten. Ich bin Teil eines Teams, das an einem Gedenkprojekt arbeitet. Es ist eine Art Skulpturenpark, mit bildhauerischen Werken und Kompositionen. Ein umfassendes Projekt. Mal sehen, wie es sich weiterentwickelt. Es ist kompliziert mit all den Genehmigungen und Kontrollen, die erforderlich sind, wenn man außerhalb einer Galerie arbeitet und in den öffentlichen Raum tritt. Viele bürokratische Hürden und ein langer Prozess.
Du warst auch an der Performance „Power of the Sun“ beteiligt. Welche Rolle hattest du dabei?
„Hopak“ ist ein traditioneller Tanz. Eine meiner besten Freundinnen tanzte diesen Tanz, obwohl es eigentlich ein Männertanz ist. Der Hopak ist ein Kosakentanz, ein Kriegstanz. Und hier tanzt ihn eine Frau. Das ist eine Umkehrung der Tradition und eine Veränderung der Geschlechterrollen. Im ukrainischen Militär (ZSU) dienen viele Frauen, und das ist eine Art Revanche.
Bereits im Titel „Power of the Sun“ ist es als Wortspiel angelegt – es klingt wie „Power of the Son“, was ebenfalls eine Umkehrung ist. Vom Sohn zur Sonne, der Frau …
Ja, darüber könnte man nachdenken. Ich habe übrigens selbst einen Sohn. Er ist neun Jahre alt.
Würdest du sagen, dass Feminismus in deiner Kunst eine Rolle spielt, oder ist das eher natürlich eingeflossen?
Ja, Feminismus ist ein Teil davon, und es ist auch natürlich eingeflossen. Seit meiner Kindheit habe ich mich für die Rechte der Frauen eingesetzt. Die Frauen vergangener Zeiten haben den Weg bereitet, den wir heute gehen. Ich empfinde es als eine Pflicht, das fortzuführen. Es ist in meinen Arbeiten präsent, ohne dass ich es ausdrücklich thematisiere.
Hast du künstlerische Vorbilder?
Es ändert sich mit der Zeit. Ich finde ständig Neues. Rodin in Paris hat einen starken Eindruck bei mir hinterlassen. Oder Robert Mapplethorpe. Er arbeitete mit Fotografie wie mit Skulptur. Fotografie kann eine Momentaufnahme sein, bei der eine Person zu einem Denkmal wird. Das spüre ich insbesondere bei Schwarz-Weiß-Fotografie. Am meisten Inspiration ziehe ich allerdings aus historischer Kunst. In der Vergangenheit hatte ich beispielsweise eine Phase, wo ich zum Ziel hatte, wie die Alten Meister zu malen. Und dann stand ich letztens in der Berliner Gemäldegalerie vor dem Gemälde „Der Jungbrunnen“ von Lucas Cranach d. Ä. – das Bild ist einfach top. Ich überlege, diese Szene in eine neue, zeitgenössische Skulptur umzuwandeln. Wir werden sehen.