TEXT: SINA BRAET
EINE HOMMAGE AN DIE FRÜHJAHRS-/SOMMERKOLLEKTION VON JIL SANDER
Es ist Abend am ersten Tag der Mailänder Fashion Week – endlich wieder physisch, live, nach einer so langen Zeit. Die merkwürdige Energie der Pandemie liegt noch immer in der Luft. Es ist fast, als müsse man wieder lernen, wie all das hier funktioniert: Fashion Shows, Energie teilen, Kreation beobachten, genießen und auch kritisieren, Nähe zulassen – sowohl emotional als auch körperlich. Verkrampf versucht man einen Sicherheitsabstand zwischen den Show-Sitzplätzen zu kreieren und jedes Mal, wenn man auf ein bekanntes Gesicht trifft, verwirrt es einen: Wie soll man sich begrüßen, wem tritt man zu nahe und wem zeigt man eine ungewohnte Distanz? Nichtsdestotrotz zieht man mit viel Dankbarkeit, viel größer als wohl je zuvor, von Schau zu Schau.
Die Show Location von Jil Sander ist erschreckend klein. Gleichzeitig fühlt sich die Exklusivität und Begierde, die Lucie und Luke Meier – Chefdesigner von Jil Sander – kreieren, so gut an. Der helle, sterile Indoor-Show-Space verbirgt eine besondere Energie. Sie erinnert ein bisschen an einen weißen Tunnel, den weißen Tunnel? Vielleicht.
Er wurde allerdings in einen sanften Fliederton eingefärbt, in einer fast schon magischen Harmonie mit der neuen Frühjahrs/-Sommerkollektion. „Spannung ist Energie“, schreiben Lucie und Luke. „Wir öffnen unsere Augen wieder und können das Glück eines neuen Erwachens genießen.“ Und das neue Erwachen findet für das Designer-Duo auf mehreren Ebenen statt: Im Juni diesen Jahres hat das Ehepaar ein Baby bekommen – eines der wohl größten Veränderungen in ihrem Leben. Kennengelernt hat sich das Ehepaar zu Studentenzeiten in Florenz. Es verwundert also nicht, warum sich die beiden für die Kollektion so viel mit neuen Emotionen beschäftigt haben. „Wir sind pluralistisch, nachtaktiv und strahlen. Wir sind feminin und maskulin, verletzlich und stark. (...) Um klar sehen zu können, müssen die Lichter und Geräusche, die uns umgeben, soft sein, sie müssen uns Komfort schenken. Deshalb müssen wir die Kraft und Sensibilität in uns mit Vorsicht einsetzen.“ Ein Statement, das so viel Stärke in sich trägt und die aktuelle Kollektion auf ein ganz neues Level hebt. Lucie und Luke appellieren damit daran, uns nicht zu ernst zu nehmen, zu verstehen, dass wir konstant und immerzu in Bewegung sind, und daran, uns offen zu zeigen für Veränderungen.
Subtil und stark sind dabei die zwei wichtigsten Schlüsselworte, sowohl für das neue Jil Sander als auch für die aktuelle Kollektion. Das Designer-Duo schafft es erneut auf so feiner Ebene mit Gegensätzen zu spielen und sie auszubalancieren, nicht zu viel und nicht zu wenig. Farben, Silhouetten und Volumen finden dabei die höchste Form an Harmonie: Sie kombinieren die starken, maskulinen Schultern ihrer Blazer und Mäntel mit Hosen, deren Linie kontrastierend fließend und soft ist. Power Dressing, so sophisticated! Leder wird gepaart mit klassischeren Doubleface-Wolljacken und – ein absolutes Highlight – Hemden mit Foulard-Krägen. In ihren Anzugs-Designs beweisen sie ihre handwerkliche Tailoring-Expertise sowie ihr immenses Feingefühl für Schnitte und Silhouetten. Während nämlich Luke Head Designer bei Supreme war und danach seine eigene Marke OAMC gründete, die sein italienisches Tailoring-Wissen verkörpert, prägt Lucie’s Background die Haute Couture. Nachdem sie bei den Luxushäusern Louis Vuitton und Balenciaga arbeitete, wurde sie Head Designer bei Dior. Auch das Gefühl für Farben gehört zu einer Stärke des Duos, ganz besonders in dieser Kollektion, die farblich betrachtet sehr viel experimenteller wirkt als ihre vorherigen, farblich minimalistischen Kollektionen.
Es werden Pastelltöne mit dunklen Farben kombiniert, Pfirsich, helles Grün, Creme, Gelb prägen das Farbschema der Designs. Prints wie Tiger in einer Samtmantel-Variante und handgedruckte Streifen brechen die unifarbene Linie dabei perfekt. Und dann überraschen sie mit zwei Designs, die ein absolutes Meisterwerk und ein Höhepunkt in dem cleveren Spiel zwischen Maskulinität und Feminität darstellen:
Oversized-Kleider, dessen Paisley-Muster aus Pailletten bestehen – fliederfarbend auf weiß und grün, rot, gelb auf weiß. Dazu kombinieren sie Hose und weiße Boots, denn es wäre nicht das neue Jil Sander, wenn keine coolen Brüche stattfinden. Diese Kombis verkörpern auch ihr Statement, sich nicht zu ernst zu nehmen, das Leben zu leben wie man es im Moment fühlt, ohne sich von anstrengenden Gedanken ablenken zu lassen. Dem Leben wirklich nahe zu sein – das haben Lucie und Luke extrem gut mit ihren neuen Designs geschafft, mehr vielleicht als je zuvor. Auch bei den Stoffen zeigt sich das immense Wissen der Designer: Seide, Samt-Moiree, Viskose, Doubelface Baumwolle und Wolle geben der Kollektion ihren starken Charakter. Akzentuiert wird dieser durch graphische Accessoires wie beispielsweise den flächigen, runden Ohrringe und Kettenanhänger.
Die neue Jil Sander Kollektion ist für mich Ausdruck purer, moderner Eleganz. Sie kreiert ein Bild einer Frau, die man sein möchte, die man begehren, bewundern und respektieren will. In einem Interview mit Vogue sagten die zwei Designer einmal: „In Schönheit muss Emotion stecken.“ Eine Erkenntnis, die so simpel ist und dennoch so stark. Am Ende geht es immer um Emotionen, Energien und Frequenzen, die es schaffen können unserem Leben nahe zu kommen und uns zu berühren. Selbst die Musik-Kuration dieser Show schafft es, genau das zu vermitteln. Die klassischen Klänge, die sich von Look zu Look steigern in ihrer Dramatik, wirken fast hypnotisierend. Letting go wird hier zu einer Botschaft, der man sich einfach völlig hingeben möchte.
Ich frage mich so oft wie moderne Eleganz in heutigen Zeiten aussieht, vermutlich wie wir alle. Ganz unabhängig von Trends, die uns – oftmals auch ganz unbewusst – so stark beeinflussen, dass sie unser Empfinden für Eleganz verwässern oder sogar manipulieren, uns daran hindern, Eleganz frei und authentisch zu fühlen und zu interpretieren. Ich denke, Lucie und Luke haben eine klare, starke Antwort gefunden. Sie mag nicht für jeden funktionieren, glücklicherweise. Denn das macht sie so besonders, so persönlich und authentisch und gleichzeitig extrem respektvoll gegenüber der DNA einer der größten, ikonischen deutschen Modemarken. Meistern tun sie das bereits seit vier Jahren für Jil Sander, so leidenschaftlich wie bescheiden zugleich, oftmals schon fast zu ruhig, denn in unseren turbulenten Zeiten sind wir Fremde vor der Ruhe geworden. Um so wichtiger werden Designer wie Lucie und Luke Meier: Sie zeigen, dass Minimalismus nicht kalt, grau, unmenschlich oder industriell sein muss. Im Gegenteil, es geht um die purste Essenz, um Reinheit und Klarheit, die Emotionen zulässt und umarmt statt sie wegzustoßen.
„Es ist smooth, aber gleichzeitig warm. Es ist sehr soft aber dennoch sehr präzise“, beschreibt es Luke einmal in einem Interview. Wenn man es schafft, die Balance zu erkennen, mit ihr zu arbeiten aber auch zu spielen, sie zu beherrschen, dann lässt man Magie entstehen. Wie Ying und Yang erscheint das Duo am Ende der Show auf dem Laufsteg, beide gekleidet in Schwarz-Weiß. Dem Zufall ist nichts überlassen, wenn man sich seinem Talent, seiner Leidenschaft, seiner Liebe und spirituellen Größe ganz hingibt. Und wer das versteht, weiß, man muss nicht immer laut, verrückt und aggressiv sein, um Aufmerksamkeit zu bekommen, um einen wichtigen Beitrag zu einer Welt hinzuzusteuern, die viel zu angepasst und verschlossen geworden ist. In eine positive Zukunft zu blicken ist das große Ziel der Meiers erst einmal. Die Reise dorthin dürfen wir also mit Neugierde und Bewunderung genießen, hoffentlich noch eine Weile bei Jil Sander. Danke für diese authentische Vision und Hommage an zeitlose Schönheit.